1888
Durch Reben fort…
Durch Reben fort! Wie sich die Beeren blähen
Gedrängt, mit süßer Herbigkeit erfüllt!
Verschwenderische Lichtsaat auszusäen,
Hielt selten nur die Sonne sich verhüllt.
Was schimpft der Bauer? Holde Rangen krähen,
Im Stalle dumpf die brave Milchkuh brüllt,
Die Jauche duftet lieblich in die Nase,
Frei werden rings die wirkungsvollsten Gase.
Nur hügelaufwärts! Jetzt den Blick gewendet!
Rechts unten Zürich, hier des Seees Flut.
Kein übermüthig blauer Himmel blendet
Das Auge mir, das wohlgefällig ruht.
Die grünen Höh’n, mit feinem Schnee gerändet, —
Mir wird so friedlich weihevoll zu Muth;
Behutsam spielt der Wind im Apfelbaume,
Leicht über’m Haupt mir schaukelt sich die Pflaume.
Genieße willig, was dein Glück beschieden,
Millionen längst durch Barbarei verkürzt!
Fern der Natur verkümmern sie hienieden,
Bis der barmherzige Gott die Fackel stürzt;
Die lastenschleppenden Karyatiden,
Mit Nacht gegürtet und mit Noth geschürzt,
Der Sklav‘ im fürchterlichen Eisenjoche,
Die Sklavin im verruchten Kellerloche.
Allmutter Erde breitet ihre Reize
Für jedes offene Menschenauge dar;
Doch freche Gier, gepaart mit bösem Geize,
Stiehlt jede Lust der unterdrückten Schaar.
Daß prahlerisch die Ueppigkeit sich spreize,
Schleift die Gewalt das todte Recht am Haar:
Tagaus, nachtein an rasselnden Maschinen
Muß der Helot das nackte Sein verdienen.
Unhörbar auf des Mooses weicher Decke
Durchschweift mein Fuß den hohen Fichtenwald,
Es lockt der Pfühl, daß ich mich niederstrecke:
„Hier wirst du träumen, selig träumen bald.“
Was huscht vorbei? Wie ich zusammenschrecke!
„Hinweg, du zarte, reizende Gestalt!“
Ein warnend Sausen brandet durch die Föhren:
Wird’s dich bethören? — Wirst du dich empören?…
Erschüttert such‘ ich meines Heimwegs Pfade,
Schon schwebt durch’s Holz die Dämmerung der Nacht,
Das Leben dunkelt — die verschmähte Gnade
Hat für das neue Heil erst Raum gebracht.
Wir sind verdammt, zu suchen. Das ist schade,
Daß wir nur Opfer in der wüsten Schlacht —
Die Nachwelt wird zum Siege wohl geboren,
Uns geht die Palme mit dem Glück verloren.
1890
Durch Reben fort…
Durch Reben fort! Wie sich die Beeren blähen
Gedrängt, mit süßer Herbigkeit erfüllt!
Verschwenderische Lichtsaat auszusäen,
Hielt selten nur die Sonne sich verhüllt.
Was schimpft der Bauer? Holde Rangen krähen,
Im Stalle dumpf die brave Milchkuh brüllt,
Die Jauche duftet lieblich in die Nase,
Frei werden rings die wirkungsvollsten Gase.
Nur hügelaufwärts! Jetzt den Blick gewendet!
Rechts unten Zürich, hier des Seees Flut.
Kein übermüthig blauer Himmel blendet
Das Auge mir, das wohlgefällig ruht.
Die grünen Höh’n, mit feinem Schnee gerändet, —
Mir wird so friedlich weihevoll zu Muth;
Behutsam spielt der Wind im Apfelbaume,
Leicht über’m Haupt mir schaukelt sich die Pflaume.
Genieße willig, was dein Glück beschieden,
Millionen längst durch Barbarei verkürzt!
Fern der Natur verkümmern sie hienieden,
Bis der barmherzige Gott die Fackel stürzt;
Die lastenschleppenden Karyatiden,
Mit Nacht gegürtet und mit Noth geschürzt,
Der Sklav‘ in seines Joches Eisenklammer,
Des Sklaven Weib in ihres Siechthums Kammer.
Allmutter Erde breitet ihre Reize
Für jedes offene Menschenauge dar;
Doch freche Gier, gepaart mit bösem Geize,
Stiehlt jede Lust der unterdrückten Schaar.
Daß prahlerisch die Ueppigkeit sich spreize,
Schleift die Gewalt das todte Recht am Haar:
Tagaus, nachtein an rasselnden Maschinen
Muß der Helot das nackte Sein verdienen.
Unhörbar auf des Mooses weicher Decke
Durchschweift mein Fuß den hohen Fichtenwald,
Es lockt der Pfühl, daß ich mich niederstrecke:
„Hier wirst du träumen, selig träumen bald.“
Was huscht vorbei? Wie ich zusammenschrecke!
„Hinweg, du zarte, reizende Gestalt!“
Ein warnend Sausen brandet durch die Föhren:
Wird’s dich bethören? — Wirst du dich empören?…
Erschüttert such‘ ich meines Heimwegs Pfade,
Schon schwebt durch’s Holz die Dämmerung der Nacht,
Das Leben dunkelt — die verschmähte Gnade
Hat für das neue Heil erst Raum gebracht.
Wir sind verdammt, zu suchen. Das ist schade,
Daß wir nur Opfer in der wüsten Schlacht —
Die Nachwelt wird zum Siege wohl geboren,
Uns geht die Palme mit dem Glück verloren.
1898
Durch Reben fort…
Durch Reben fort! Wie sich die Beeren blähen
Gedrängt, mit herber Süßigkeit erfüllt!
Verschwenderische Lichtsaat auszusäen,
Hielt selten nur die Sonne sich verhüllt.
Was schimpft der Bauer? Holde Rangen krähen,
Im Stalle dumpf die brave Milchkuh brüllt,
Die Jauche duftet lieblich in die Nase,
Frei werden rings die wundervollsten Gase.
Nur hügelaufwärts! Jetzt den Blick gewendet!
Die Stadt rechts unten, hier des Seees Flut.
Kein übermüthig blauer Himmel blendet
Das Auge mir, das wohlgefällig ruht.
Die grünen Höh’n, mit feinem Schnee gerändet, —
Mir wird so friedlich weihevoll zu Muth;
Behutsam spielt der Wind im Apfelbaume,
Leicht über’m Haupt mir schaukelt sich die Pflaume.
Genieße willig, was dein Glück beschieden,
Millionen längst durch Barbarei verkürzt!
Fern der Natur verkümmern sie hienieden,
Bis der barmherzige Gott die Fackel stürzt;
Die lastenschleppenden Karyatiden,
Mit Nacht gegürtet und mit Noth geschürzt,
Der Sklav‘ im fürchterlichen Eisenjoche,
Die Sklavin im verruchten Kellerloche.
Allmutter Erde breitet ihre Reize
Für jedes offene Menschenauge dar;
Doch freche Gier, gepaart mit bösem Geize,
Stiehlt jede Lust der unterdrückten Schaar.
Daß prahlerisch die Ueppigkeit sich spreize,
Schleift die Gewalt das todte Recht am Haar:
Tagaus, nachtein an rasselnden Maschinen
Muß der Helot das nackte Sein verdienen.
Unhörbar auf des Mooses weicher Decke
Durchschweift mein Fuß den hohen Fichtenwald,
Es lockt der Pfühl, daß ich mich niederstrecke:
„Hier wirst du träumen, selig träumen bald.“
Was huscht vorbei? Wie ich zusammenschrecke!
„Hinweg, du zarte, reizende Gestalt!“
Ein warnend Sausen brandet durch die Föhren:
Wird’s dich bethören? — Wirst du dich empören?…
Erschüttert such‘ ich meines Heimwegs Pfade,
Schon schwebt durch’s Holz die Dämmerung der Nacht,
Das Leben dunkelt — die verschmähte Gnade
Hat für das neue Heil erst Raum gebracht.
Wir sind verdammt, zu suchen. Das ist schade,
Daß wir nur Opfer in der wüsten Schlacht —
Die Nachwelt wird zum Siege wohl geboren,
Uns geht die Palme mit dem Glück verloren.
Amselrufe. Neue Strophen, Zürich 1888. S. 7-9. Online
Amselrufe, Zürich 1890, S. 7-9. Online
Gedichte, Zürich und Leipzig 1898, S. 154-150. Online
Interessant ist nicht nur, dass Henckell den Versanfang „Rechts unten Zürich“ durch das allgemeinere „Die Stadt rechts unten“ ersetzt, sondern auch, dass er eine Änderung rückgängig macht.
1888 heisst es:
Der Sklav‘ im fürchterlichen Eisenjoche,
Die Sklavin im verruchten Kellerloche.
Daraus wird 1890:
Der Sklav‘ in seines Joches Eisenklammer,
Des Sklaven Weib in ihres Siechthums Kammer.
1898 heisst es dann wieder:
Der Sklav‘ im fürchterlichen Eisenjoche,
Die Sklavin im verruchten Kellerloche.
Es ist dies die einzige Stelle, bei der Henckell eine Änderung später gewissermassen widerruft.